
Die Behauptung, Politik sei per se verlogen, greift zu kurz, ist zu harmlos und bedient nur gängige Stereotype. Denn gerade im anbrechenden Zeitalter der Desinformation ist Politik auf gewisse Weise schonungslos ehrlich. Sie zeigt in Moskau ebenso wie in Washington, Buenos Aires, Jerusalem, Budapest und andernorts, wer sie ist und was sie antreibt. Führende Politiker und Politikerinnen offenbaren, wozu sie politisch in der Lage und zu welchen Überlastungen des Demokratischen sie jederzeit bereit sind.
Demagogen-Dämmerung als autoritärer Reflex
In Zeiten politischer und wirtschaftlicher Instabilität, wenn das gesellschaftliche Immunsystem geschwächt ist, gedeihen sie prächtig und treten auf den Plan, die Populisten, Demagogen und autokratischen Despoten. Ihre Sprache ist suggestiv, nicht inklusiv, neutral oder analytisch. Sie versuchen nicht zu überzeugen, sondern zu überreden. Dabei nehmen die meisten von ihnen die Polarisierung und Verschärfung bestehender Konflikte durch verbale Gewalt und Zuspitzung politischer Sprache sowie durch provokante, manipulative Handlungen und Drohgebärden in Kauf. Ziel dieses Handelns ist eine Reaktion des Gegenübers, die im weiteren Fortgang formalrechtlich zum Anlassfall für autoritäre Maßnahmen gemacht werden kann.
Nicht zu vergessen: Angriffskriege wie der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, die Invasion des Irak und jene der Ukraine wurden aus einer Mischung von Vorwänden, Lügen und Täuschungsmanövern begonnen. Autoritäre Staatsführer, Demagogen und illiberale Machtpolitiker saßen in allen Fällen an den Schalthebeln der Gewalt, unberührt von Humanismus und immun gegen Kulturbegriffe wie Toleranz.
Demokratische Zerreißproben und Präsidialmacht
Seit Jahrzehnten werden die potenziellen Schwächen präsidentieller Systeme im Hinblick darauf diskutiert, wieviel Macht einem Präsidenten zukommen dürfe. So existieren etwa im semipräsidentiellen System Frankreichs zumindest demokratieschützende Mechanismen, die den Präsidenten davon abhalten, etwa mittels Gesetzen aus der Zeit der Französischen Revolution autoritäres Handeln in der Gegenwart zu legitimieren. Ganz im Gegensatz zur Machtkonzentration in den USA, deren politische Praxis es nicht nur in Ausnahmefällen gestattet, sondern strukturell ermöglicht, in einem einzigen Amt exekutive, legislative und kommunikative Autorität zu bündeln.
Erst nachdem die aktuelle autoritäre Episode in den USA zu Ende gegangen sein wird – der Gouverneur Kaliforniens bringt sich als demokratischer Kandidat gerade unübersehbar in Stellung – kann die Stärkung des Parlamentarismus aufs Neue möglich werden. Den Kongress und die legislativen Prozesse zu stärken, anstatt mittels Stakkato präsidentieller Dekrete zu schwächen, wäre sohin ein dringend notwendiger Reparaturvorgang im Sinne demokratischer Prinzipien.
Zur politischen Anatomie der Grenze
Das Phänomen Freiheit ist ursächlich auf Grenzen und deren Überwindung rückführbar, während Ethik und Moral auf deren Anerkennung gründen. Gesellschaftliche Grenzverläufe werden heute mittels Ausschlussrhetorik primär als Begrenzungen, Eingrenzungen und Ausgrenzungen verstanden. Der antike griechische Begriff der Grenze umfasste dagegen eine Vielzahl an Phänomenen. Über das räumlich-zeitliche Ende hinaus wurden Grenzen auch als jenes verstanden, von woher etwas seinen Ausgang nimmt. Grenzen waren Ausgangpunkte für das „Überhaupt-möglich-Werden“ von etwas. An den antiken Befestigungsanlagen war einst sichtbar und spürbar, dass jenseits des Limes der Lebensraum des anderen begann. Diese doppelte Lesart des Begriffes Grenze ist längst verloren gegangen.
Gegenwärtig könnten die Tiefpunkte der globalen Politik – hoffnungsfroh formuliert – zu einer solchen Grenze als Neubeginn werden, von der aus das demokratische Prinzip wieder stabilisiert wird und aufgerissene gesellschaftliche Bruchlinien behutsam geschlossen werden. Denn auch entlang von unsichtbaren Grenzzäunen und gläsernen Decken entscheidet sich, ob bestehende Barrieren überwunden und bezwungen oder ob Hürden zu unüberwindlichen Hindernissen aufgetürmt werden. Zu den abstrakten, dennoch einschneidenden Grenzen zählen heutzutage jene des Zugangs, access, der nur zum Teil ein Prozess der Teilwerdung durch gebilligte Nähe ist. Zugänge zu ermöglichen und zu fördern stärkt das integrative Prinzip, Zugänge lediglich zu gewähren stärkt das Prinzip der Herrschaft.
Desinformation und Zugangsdebakel
Das kürzlich geplatzte Wahlprozedere einer von drei Höchstrichtern bzw. Höchstrichterinnen Deutschlands führt erneut vor Augen, dass auch in dieser Debatte nicht das integrative Prinzip verfolgt wurde, sondern jenes einer herrschaftspolitischen Form der Nichtgewährung von Zugang. Die Mischung aus einer – angesichts der Wichtigkeit der zu besetzenden Position – parteiintern vonseiten der Union mehr als unzureichend vorbereiteten Wahl, in Kombination mit der bereits enorm angewachsenen Macht der Desinformationsalgorithmen, riss einige der nur oberflächlich verheilten gesellschaftlichen Wunden auf.
Das Risiko der Verstärkung soziokultureller Spaltungstendenzen wird von nahezu allen Akteuren, auch zahlreichen Medien, die ab einem bestimmten Social Media-Druck an Themen nicht mehr vorbeikommen können oder wollen, in Kauf genommen. Dabei wird kaum beachtet, dass das Gewinnpotenzial dieser Debatte aufgrund gezielter manipulativer Verzerrungen politisch bereits so weit nach rechts gerückt wurde, dass es von gemäßigten Kräften kaum mehr vereinnahmt werden kann. Ein auf brachiale Weise erzielter Punkt für die am Rande des Verfassungsbogens stehenden Akteure ist zwar kein Sieg, doch eine Tendenz, die beunruhigt und zu denken gibt.
Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Sein neues Buch „Demagogie. Sozialphilosophie des sprachlich Radikalbösen“ erscheint in Kürze. Er ist Autor von „Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache“ (2023, 2. Aufl.), „Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes“ (2022), „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“ (2021, 2. Aufl.).
Ähnliche Beiträge:
- Der boomende Grenzindustriekomplex
- Nato: Unterscheidet sich Strategische Kommunikation von Desinformation?
- Angst vor Desinformation und die Säuberung des Informationsraums
- In Deutschland finden „prorussische Verschwörungserzählungen“ mehr Resonanz
- Künstliche Intelligenz gegen Desinformation als Waffe im Cyberwar
Er richtet seine Kritik offenbar gegen „die Populisten, Demagogen und autokratische Despoten“, doch merkt Herr Paul Sailer-Wlasits anscheinend gar nicht, dass die von ihm formulierten Probleme längst nicht nur für diese Zielgruppe gelten.
Ansonsten:
So schreiben Philosophen … Und das ist jetzt kein Lob.
Einfach nur ein liberaler Schönschwätzer. Für den Philosophen fehlt die Tiefe. Er problematisiert die Farbe des Autos wenn das Auto nicht fährt.
@garno
Haben Sie nett formuliert …
„So schreiben Philosophen … Und das ist jetzt kein Lob“
Mein Reden…. siehe auch die anderen Antworten auf ihre Einlassung.
Ich nenne es für mich immer Diskussion auf einer Metaebene. Es fehlt eben genau das, die Tiefe, dass auf den Kern, die wahren Hintergründe und Zusammenhänge kommen, jenseits der Fassade.
Böse könnte man es Schwurbelei nennen, aber das wäre zu böse. Denn der König des Schwurbelns ist und bleibt nun mal Gauck
Tja. Früher hat die Bildzeitung Parlamentrier mit getürkten Informationen am Nasenring geführt, heute machen das Aktivisten wie die von Tichys Einblick und Ähnliche.
Von einem Philosophen hätte ich erwartet, dass er Fehlinformationskampagnen, die ins Parlament zielen, von (Doppel-)Moral-Shitstorms, die ins Inner- oder Außerparlamentarische zielen, unterscheiden kann.
Es ist durchaus nicht so, dass alle Unionspolitiker, die gut geeignet wären, bereits alle in der AfD sind.
Wenn Russland also dem weiteren Abschlachten und der Vertreibung der russisch-stämmigen Bevölkerung in der Ukraine tatenlos zugesehen hätte, hätte das von Humanismus und Toleranz gezeugt? Und in den USA können natürlich nur die Democrats – verantwortlich immerhin für ua Jugoslawien, Libyen und Syrien – diese Werte garantieren? Und damit will sich der Autor gegen Populismus und Demagogie in Stellung bringen…?
Was für ein Rohrkrepierer.
Nö, eigentlich stellt er nur eine Entwicklung fest. Z.B. unter Biden und seinen Vorgängern war die Politik noch ziemlich verlogen. Man erzählte tagaus/tagein, daß die Regierenden nur das Wohl des Volkes im Auge haben und national/weltweit für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit kämpfen und wirken. Jeder, der das kleine Einmaleins beherrscht weiß, daß das natürlich alles Lügen waren/sind.
Heutzutage gibt man sich nicht mehr die Mühe, seine wahren Absichten zu verbergen. Sicherlich, die meisten Propagandainstrumente verbreiten immer noch dieselben Märchen wie zuvor, dafür werden sie nun mal bezahlt, das ist ihre Aufgabe – Manipulierung der öffentl. Meinung.
Aber die Regierenden selbst reden oft Klartext, allen voran Trump. Während Biden einen noch Honig ums Maul schmierte, bevor er einem das Messer in den Rücken rammte, zückt Trump gleich die Klinge und hält sie einem vors Gesicht.
Auch Kriege fallen nicht vom Himmel, sondern werden von jenen erzeugt, die sich davon einen Nutzen versprechen.
Dabei gilt:
„Pecunia est nervus belli.“
Geld ist der Nerv des Krieges – und
„Quod licet Iovi / Jovi, non licet bovi“
Wenn zwei das Gleiche tun ist das noch lange nicht dasselbe.
Dergleichen wußte man schon im alten Rom was zeigt, dass sich das Denken bisher wenig verändert hat.
Nur die Ausreden sind schöner geworden.
Tatsächlich gilt auch weiterhin, dass der Glaube Berge versetzen kann, was dazu führt,
dass jede noch so idiotische Dummschwätzerei anbetungswürdig erscheint.
Die sogenannte politische Mitte ist in Wirklichkeit der radikalste Teil der Gesellschaft. Die Ränder sind tendenziell klüger und umsichtiger. Das heißt der Großteil der Gesellschaft hat sich extrem radikalisiert und
ist der Verblödung anheim gefallen. Rückblickend wird man dies mit Klarheit feststellen. Sogenannte Demokratien sind keinen Deut besser als Autokratien. Sie sind nur besser im täuschen und verschleiern……
Die meisten Kriege werden von Demokratien in Wirklichkeit Plutokratien geführt.
Das mit der Mitte ist schon die erste Lüge: die sozialen Gruppen und ihre Parteien, die für sich die Mitte reklamieren, sind die oberen 20% der Gesellschaft, während die quantitative Mehrheit, untere Mittelschicht und Unterschicht, zum Rand erklärt wird.
Die Ideologien der oberen 20 % sind im Moment anscheinend, im Gegensatz zum 20. Jahrhundert, nicht mehr hegemoniefähig – womit sich deren Anspruch auf „Mitte“ legitimierte, eben als die auch kulturell führende Schicht, der die Angeführten vertrauten, weil sie auch ihnen was zu bieten hatte. Das ist vorbei und dieses Führungsversagen ist normalerweise ein Szenario für eine Revolution.
In der heutigen Situation wird der Liberalismus des Westens das Opfer eines solchen Aufstands werden. Dass es in Revolutionen zivil zugeht und der Anstand dabei automatisch gewinnt, nur weil die Unterdrückten sich dabei befreien, ist eben auch eine von diesen linken Selbsttäuschungen.
Die Revolution, die sich da ankündigt, wirkt auf Liberale im Moment logischerweise unappetitlich, und sie bieten sich und ihre Ideen an wie sauer Bier. Dieser Text wirkt auf mich wie ein weiteres Zeugnis für diese Suche liberaler Denker nach ihrer verlorengegangenen Relevanz.
Gavin Newscom (der kalifornische Gouvaneur von den Demokraten) wird nicht die Probleme der USA lösen können selbst wenn er Präsident wird. Seine Familie ist mit den Gettys verbunden und auch mit der Familie von Nancy Pelosi, die seine Karriere von Anfang an fördern.
https://web.archive.org/web/20080220060224/http://www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?file=%2Fchronicle%2Farchive%2F2003%2F02%2F23%2FMN245262.DTL
Es würde also nur einen Austausch von Gesichtern geben (ein jüngeres) und eine andere Kapitalfraktion würde die Macht haben (der Club um die Gettys). Die Strukturellen Probleme und demokratischen Demokratischen Defizite würden auch unter Newscom unangetastet bleiben, vielleicht weniger augenfällig und Trampelhaft wie unter Trump der eben ein Künstler ist was das nichtauslassen von Fettnäpfchen und Zerschlagen von politischen Porzellan angeht, vielleicht würde Newscom da etwas vorsichtiger agieren, dennoch ändern würde sich wenig bis gar nichts, dazu ist Newscom viel zu stark mit den Eliten verbunden.
„Die Bruchlinien in der Gesellschaft behutsam schließen“….
Nein danke, ohne mich. Die Akteure in den hausgemachten Krisen der letzten 6 Jahre können um Entschuldigung bitten, dann kann man unter Umständen über eine Annäherung reden. Versöhnung wird kaum möglich sein, man könnte jedoch zu einer Koexistenz zurückfinden.
Bei Bruchlinien in Demokratien fällt mir stets das griechische Scherbengericht ein.
Eigentlich eine sehr sinnvolle Maßnahme, die auch heute humanitär genug wäre, um politische Untaten zu ahnden.
In unserer modernen repräsentativ/parlamentarischen Demokratie gilt, das immer nur das Volk für alles haftet,
was die von ihm gewählten Repräsentanten verursachen – und sei es auch das Törichste auf der ganzen Welt.
Keine Bange, von den Typen kommt keine Entschuldigung und auf Versöhnung pfeifen sie. Sie werden vermutlich auch noch verbrannte Erde hinterlassen, um sich in Sicherheit bringen zu können.
Die Bruchlinien in der Gesellschaft behutsam schließen“
Echt jetzt ??? antagonistische Widersprüche zukleistern, das soll die Rettung sein ? Na toll, dann macht mal weiter…..
Und mir fällt bei diesem feuilletonistischen Geschwätz dieses Herrn Philosophen aus Wien nur diese scheinbare Banalität ein: Pleace is really not everything, but without peace, everything is nothing
Dear Brian, schön wäre es dieses Zitat auf seinen deutschen Urheber zurückzuführen. Auf Willy Brandt.
Dear David,
nein. Wird WB nur zugeschrieben. Ist ´n Spontispruch aus der Alt-BRD. Gruß, BJ
>>Sein neues Buch „Demagogie. Sozialphilosophie des sprachlich Radikalbösen“ erscheint in Kürze.<<
Vielversprechender Titel, wobei das Radikalböse in der Demagogie ohnehin der Normalfall zu sein scheint, die Sozialphilosophie einmal außen vorgelassen. Selbst ich würde dieses Buch lesen, wenn ich nicht einer der bestbezahlten Transhumanisten dieses Planeten wäre.